Musical Life in Europe 1600-1900

German original version

Peter SCHLEUNING  

                                                                                                    

 

Wandlungen der Bedingungen, Ziele und Wirkungen des Komponierens vom frühen 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert

Translation

Die zehn Punkte stehen nicht in logischer Parallele zueinander, sondern sind hierarchisch vielfach untereinander verknüpft. Jeweils durch ein oder mehrere Beispiele verdeutlicht, vergröbern sie in ihrer thesenartigen Kürze die Faktoren der Wandlung, unter anderem weil sie nur die Spitzen der musikalischen und gesellschaftlichen Bewegungen beleuchten. Auf diese Art sollen sie die Haupttendenzen angeben und zur Diskussion anregen. Die Punkte lassen sich in zwei Fünfer - Gruppen teilen, die zwar aufeinander bezogen sind, aber gedanklich getrennt werden können unter einem eher praktischen und einem eher ideologischen Aspekt.

1.   Gebunden und „frei"

2.   Urheberrecht

3.   Normierungen von Gattungen und Orchestern

4.   Durchsetzung des „Werkes" gegenüber den Musikern

5.   Rückzug des Komponisten aus der Aufführungspraxis zugunsten des Dirigenten

 6.   Der Komponist als öffentliche Person

 7.   Selbstdarstellung und Poetisierung

 8.   Der „Schöpfer" und die Religiosität des Werkes, Individualisierung der Form

 9.   Verhältnis zum Publikum, der Komponist als Verkünder

 10. Änderung des Natur- und Schönheitsbegriffes

1. Gebunden und „frei"

Die traditionelle Lehrmeinung nennt als ersten „freien" Komponisten für das Jahr 1780 Johann Baptist Vanhal. In dieser Festlegung wird vielerlei nicht beachtet, z. B. daß es schon lange zuvor diese Position gab, etwa in Gestalt von eigenveranwortlichen Unternehmern wie Händel. Nicht nur deshalb ist der historische Übergang zum „Freien" fließend und nicht auf eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Jahr festzulegen, sondern auch weil Festangestellte wie Telemann zur Hälfte „Freie" waren, also Unternehmer, und so für die Nachfolgenden vorarbeiteten und die Möglichkeiten der „freien" Arbeit erkundeten, dann auch, weil die „Freien" wie Mozart und Beethoven in der meisten Zeit ihres Lebens dies nicht freiwillig waren und lebenslang eine Festanstellung erhofften, ohne sie für längere Zeit zu erlangen. Ferner ist zu beachten, daß der Sprung ins „Freie", falls er freiwillig geschah, Voraussetzungen haben mußte, die äußerst selten waren, nämlich einen solchen Rückhalt an Ruhm, daß auf ein Stadt- oder Hofamt verzichtet werden konnte. Musterbeispiel ist Haydn in London, der „vermög neuen Contracts" mit dem Londoner Konzertunternehmer dem Rückruf seines Dienstherrn nicht folgte und dabei 1791 im Brief an Frau von Genzinger diese Entscheidung mit einer Formulierung bedachte, die die gesamte Entwicklung in den freien Markt musterhaft zusammenfaßt:

„wie süss schmeckt doch eine gewisse freyheit [...] nun habe ich sie einiger massen, ich erkenne auch die gutthat derselben ohngeachtet mein geist mit mehrer arbeith beschwert ist. das bewußt sein kein gebundener diener zu seyn, vergütet alle mühe [...] ich erwarte nun leider meine entlassung; hofe aber anbey, daß mir gott die gnade geben wird, durch meinen fleiß diesen schaden in etwas zu ersetzen."

Wollte man aber aus diesem Text eine Definition ableiten, etwa jene, wonach die Bedingung für einen „Freien" sei, daß er vom Unterrichten lebe, von den Einnahmen aus Konzerten und von Verlagshonoraren oder – falls er Selbstverleger ist, wie anfangs häufig – aus Verkäufen seiner Noten, so gibt es zweierlei Einwände, einmal denjenigen, daß die Konzerteinnahmen aufgrund des noch unentwickelten Urheberrechtes äußerst kläglich waren, es sei denn, der Komponist sei – wie Haydn – für eine Saison fest eingestellt oder Interpret seiner eigenen Werke gewesen, etwa ein reisender Virtuose, zum zweiten denjenigen, der sich aus einem Blick auf Richard Wagner ergibt. Denn dann wäre dieser keinesfalls ein „freier" Komponist, da er im Höchstfall eine der genannten Bedingungen erfüllte und ohne die Zuwendungen u.a. von Otto Wesendonck oder König Ludwig II. niemals hätte reussieren können. Man könnte ihn einen „Freien" durch Glück oder in seiner Sprache einen „unfreien Freien" nennen. Ein Vergleich eines „freien" Komponisten etwa mit einem Unternehmer aus dem Bereich der Wirtschaft ist also nicht widerspruchsfrei und zeigt das Problem einer halbwegs brauchbaren Definition.

Schließlich auch hatten viele größere und kleinere Komponisten „ernster" Musik bis in die jüngere Zeit Festanstellungen, lebten jedoch keinesfalls hauptsächlich von ihrem Gehalt (Mahler, Strauss). Vielleicht müßte man eine Definition von dem Kriterium abhängig machen, ob jemand die Hauptarbeit für den Ort und die Organisation seiner Anstellung vollzieht, so wie etwa Bach, oder nicht. Dieser Aspekt dürfte sich tatsächlich entscheidend gewandelt haben, da die neuen „Freien" auch bei Anstellung zu großen Teilen für den Markt schrieben. Dieser, seine Entstehung und seine Öffnung und damit auch die Entwicklung des Publikums als Hörende, Spielende und Kaufende sind wohl die entscheidenden Angelpunkte für die Herausbildung des „freien" Komponisten. Allein auf ihn und seine kompositorische Arbeit zu blicken, dürfte keine Klarheit über die Bedingungen seiner Geburt schaffen.

 

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2. Urheberrecht

Was man heute als Nebentätigkeiten bezeichnen würde, eröffnete den „Gebundenen", also den Festangestellten, nicht nur künstlerische Möglichkeiten als Teil – „Freiheiten", sondern zwang sie auch, falls sie damit einen nicht zu geringen Nebenverdienst erzielen wollten, der bei besonderem „Fleiß" wie im Falle Haydns oder Telemanns den Hauptverdienst übertreffen konnte, zur Aktivität, nämlich zur Sicherung und Maximierung ihrer Einnahmen. Hier ist die Bemühung um eine Ausweitung des Urheberrechts über die Grenzen des eigenen Landes hinaus, aber auch innerhalb dieses – etwa auch bei Telemann – , an erster Stelle zu nennen. Die Internationalisierung des Marktes über die eigenen Landesgrenzen hinaus bis hinein in die anderen europäischen Staaten erforderte Anstrengungen, die auch noch lange nach Telemann im wesentlichen Privatsache der Komponisten blieb. Man kennt die Bemühungen Beethovens, durch Zeitungs- und Zeitschriften – Anzeigen ausländische Raubdrucke anzuschwärzen und vor ihnen zu warnen, allerdings nicht mit Gesetzen im Rücken, sondern lediglich mit dem Hinweis auf dortige Druckfehler und das Fehlen seiner Autorisation. Absprachen und Gesetze von Staats wegen waren selten oder geringfügig, und deshalb blickten die Komponisten nicht nur in dieser Hinsicht voller Bewunderung und Neid auf die Entschlüsse und Verordnungen der Französischen Revolutionsregierung, die schon in den ersten Jahren nach 1789 den Erlös von allem, was gedruckt wurde, landesweit als Eigentum des Autors im Verein mit dem Verlag festlegten. Dies schloß aber noch nicht Aufführungtantiemen ein, wie sie erst sehr viel später durchgesetzt wurden.

Beethoven beklagte 1801 seine Nöte mit der Situation in den deutschen Ländern und äußerte, angelehnt an das französische Projekt eines kollektivistischen „Magazin publique", eine Idee, die heutige vergleichbare Versuche wie den „Verlag der Autoren" oder ähnliche Gründungen der Nach – 68er – Zeit vorwegnahm, aber sie in Hinsicht des internationalen Aspektes noch übertraf:

„Es sollte nur ein Magazin der Kunst in der Welt sein, wo der Künstler seine Kunstwerke nur hinzugeben hätte um zu nehmen was er brauchte; so muß man noch ein halber Handelsmann sein, und wie findet man sich darein!"

Der Zwang und zugleich die Mühsal, als „Freier" zusätzlich zur künstlerischen Arbeit als Unternehmer tätig sein zu müssen, ist hier klassisch formuliert. Joseph Haydn entledigte sich dieser „Mühe" im Dschungel des Urheberrechts mit Eleganz: 1787/88 verkaufte er die sogenannten Pariser Sinfonien (Nr. 83-87) zugleich an drei Verlage in Paris (Imbault), London (Forster) und Wien (Artaria), jeweils mit der Zusage, der Verlag erhalte die Werke als einziger. Mit dem Ruhm stieg der Verdienst, aber auch das Mißtrauen der Verleger... Immerhin hatte Haydn bereits zwei Klaviertrios von Pleyel unter seinem eigenen Namen verkauft.

Ebensowenig wie das Urheberrecht waren die Verlagshonorare geregelt, sondern ergaben sich meist aus langwierigen Absprachen und mühevollem Gezerre von beiden Seiten – wie vielfach auch heute noch. Auch hier wieder gibt Beethoven ein Beispiel, wie Haydn ausgestattet mit dem Vorteil, der durch sein öffentliches Renommé entstanden war und einen nicht nur dreifachen Verdienst wie bei Haydn, sondern sogar einen vierfachen Verdienst durch ein einziges Werk ergeben konnte, teilweise sogar außerhalb des Autorenrechtes, dabei aber gänzlich legal:

Der anvisierte Widmungsträger – im Falle der Eroica der Fürst Lobkowitz – zahlte für den Vorbesitz des handschriftlichen Aufführungsmaterials eine ausgehandelte Summe, bei der Eroica zunächst für ein halbes Jahr 400, dann nach Verlängerung nochmals 700 Gulden, ein einträgliches, aber auch heikles Unternehmen, da der Komponist nur die mündliche Zusage hatte, das nichts kopiert werde – ein Sonderfall des Urheberrechts. Dann gewährte der Fürst für die Widmung eine frei gewählte Summe, im Falle der Eroica als „Geschenk" immerhin 80 Golddukaten, also nochmals mindestens 360 Gulden. Nun gab es halböffentliche Aufführungen, schließlich die öffentliche Uraufführung (7. April 1805), alle offenbar gut besucht und für den Autor lukrativ, auch weil er selbst dirigierte. Endlich erfolgten Verlagsverhandlungen, zunächst 1803 mit Simrock, der 450 Gulden zahlen sollte, dann – nach dem Abbruch der Verhandlungen - mit Härtel, welcher, ehe er von Beethoven ausgebootet wurde, für die Eroica sowie die Waldsteinsonate und die Appassionata 700 Gulden bot, so daß, falls man Beethovens Angabe vom Vorjahr zugrunde legen kann, eine Klaviersonate koste 20 Dukaten, also 90 Gulden, die Sinfonie bei Härtel gut 500 Gulden hätte bringen sollen, aber anderweitig offenbar noch mehr brachte, da das in der letzten Verhandlungsphase mit Härtel ins Spiel gebrachte Wiener Kunst- und Industrie – Comptoir, das schließlich die Sinfonie 1806 herausbrachte, dieses Privileg zweifelsohne nur erhielt, weil mehr geboten wurde als von Härtel. Verdienste aus den Voraufführungen und der Uraufführung eingerechnet, dürfte Beethoven mit dem Werk vielleicht 2500 Gulden verdient haben, ein Erfolg seines zähen Taktierens. 1804 nämlich hatte er von Härtel noch 2000 Gulden für sechs Werke einschließlich der Eroica verlangt und auf Eile gedrängt, wofür er „gerne etwas verlieren" wolle, dann aber nichts getan, was Eile verriet.

 

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3. Normierung von Gattungen und Orchestern

Der allmähliche Aufstieg des Komponisten zum Alleinunternehmer und die Entwicklung zur Internationalisierung des Marktes förderten weitere Maßnahmen, nämlich einerseits die Normierung der Orchesterbesetzung, wenn auch noch nicht –größe, damit die Werke auch im Ausland durch allmähliche Standardisierung der Instrumentengruppierung aufgeführt werden konnten, andererseits eine Standardisierung der Gattungen, was Satzfolge und –anlage betrifft, so daß das Publikum sich bei bestimmten Werktiteln wie etwa Sinfonie oder Rondo auf sich entsprechende Werke und Sätze einstellen konnte und durch dieses Vorverständnis zum Konzertbesuch oder Notenkauf ermuntert wurde.

Diese Entwicklung gliedert sich dem Aufkommen von Markenartikeln auf dem sich erweiternden anonymen Warenmarkt ein, sowohl was den Wiedererkennungswert betrifft als auch die Qualitätsmarke. Der Unterschied zur Vorzeit wird deutlich, wenn man die Namensnennung Bach und die Gattungsbezeichnung Kantate unter den Bedingungen der Zeit um 1730 betrachtet im Unterschied dazu „Beethoven" und „Sinfonie" um 1815. Letzteres geht in einen festen Gesamtbegriff zusammen, und zwar europaweit. Die Gattungen haben jetzt auf dem Markt einen Warenwert, den die Komponisten bei Komposition und bei Verlagsverhandlungen einschätzen und im Voraus berechnen. Beethoven schreibt 1801 an den Verleger Hoffmeister, als er diesem die opera 20, 21 und 22, also Septett, 1.Sinfonie und Klaviersonate, allesamt zu je 90 Gulden anbietet, und zwar,

„weil ich finde, weil ein Septett oder Symphonie nicht so viel Abgang finden als eine Sonate, deswegen tue ich das, obschon eine Symphonie unstreitig mehr gelten soll."

In späteren Verlagsverhandlungen, als sein Ruhm als Symphonist gewachsen ist, verhält er sich anders, indem die Symphonie als Nobelmarke auch das meiste erzielen soll.

Dabei muß der Komponist im Hinblick auf das neue, anonyme Publikum seine Chancen und Risiken abschätzen und seine Werke im Hinblick auf zu vermutende Kenner- und Liebhaber – Anteile produzieren oder die Gattungen sogar im Hinblick darauf einsetzen und verändern. Er wirft sie in der neuartigen Situation der Konkurrenz und der Anonymität auf den Markt in dem Zwang, die Chancen für Konzertbesuch und Notenkauf zu wittern. Marktforschung muß er selbst betreiben, allerdings mit dem Risiko seines Bankrotts.

Carl Philipp Emanuel Bach bietet in der Frühphase dieser neuartigen Phänomene einige gute Beispiele. Nicht nur daß er die bei Kennern noch verpönten Gattungen des Rondos und der Sonate mit einem begleitenden Instrument „nach dem jetzigen Schlendrian" in die Produktion aufnimmt und die ironische, aber den wahren Anlaß offenbarende Begründung abgibt, er „habe endlich müssen jung thun", sondern er verändert, seit er die „wenig lucrative" Kenner – Gattung Freie Fantasie mit dem vierten Heft (1783) in die sechs Klavier - Sammlungen „für Kenner und Liebhaber" aufgenommen hat, angesicht der sinkenden Verkaufszahlen der folgenden Hefte die Gattung allmählich zu einer relativen Glätte und Einfachheit, die sie in die Nähe des Rondos rückt, dies aber nicht aufgrund einer allgemeinen Veränderung seines Stils, sondern ausschließlich aus Verkaufsrücksichten: Denn seine letzte, nicht zur Veröffentlichung bestimmte Fantasie, jene in fis-Moll, ist so kraus und sprunghaft wie die Fantasien aus der Frühphase.

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4. Durchsetzung des „Werkes" gegenüber den Musikern

Sind die bisher genannten Maßnahmen des Komponisten im wesentlichen auf die Kommunikation zwischen Produzent und Rezipient beschränkt, ob dieser nun Hörer, Käufer oder Verleger ist, und beziehen sie sich auf die neue anonyme, unkonkrete Masse, so ist eine weitere Maßnahme auf ganz konkrete Personen ausgerichtet, nämlich die Musiker, die die Werke spielen und dem Publikum europaweit vorführen. Hier findet eine weitere und besonders schwerwiegende Veränderung statt, nämlich die Ausgrenzung der Musiker aus der Mitproduktion am Erklingenden, wie sie zuvor selbstverständlich war im Verständnis von der Komposition als Vorlage für spontane Zusätze von wesentlichen und willkürlichen „Manieren." Die Musiker werden aus Mitproduzenten zu Interpreten, mithin zu Abspielern des Vorgegebenen, werden sozusagen zu musikalischen Vorlesern ohne eigene Erfindungs- und Ergänzungskompetenz. Auch dies wiederum ist Teil im Prozess der Internationalisierung und Normierung, indem auf diese Weise die Werke cum grano salis in Madrid so klingen sollen wie in Leipzig. Bewerkstelligt wird dies durch eine sprunghafte Zunahme von Spielanweisungen und –vorschriften – man denke nur an die „Probestücke" aus Carl Philipp Emanuel Bachs Klavierschule! - bis hin zur Metronomisierung der Werke, wie Beethoven sie u.a. 1813 mit der Absicht veröffentlicht,

„aller Orten die Ausführung in dem ihnen zugedachten Zeitmass, das er so häufig verfehlt bedauert, zu verschaffen." (AMZ)

1826 äußert er eine Begründung, in welcher die Individualisierung der Kunstwerke angesprochen ist (Brief an Schott):

„In unserem Jahrhundert ist dergleichen sicher nöthig; auch habe ich Briefe von Berlin, daß die erste Aufführung der Symphonie mit enthusiastischem Beyalle vor sich gegangen ist, welches ich großenteils der Metronomisierung zuschreibe. Wir können beihnahe keine Tempi ordinarij mehr haben, indem man sich nach den Ideen des freyeren Genius richten muß." – des „freyeren"!

Berlioz war höchst befremdet, als er den Oboisten der Hechinger Kapelle Verzierungen in seinen Werken anbringen hörte.

Welch heute kaum mehr vorstellbare Umwälzung diese Einengung, ja Unterwerfung eines produktiven Berufsstandes bedeutete, die im Streit zwischen Musikern der alten und der neuen Auffassung bis zur Handgreiflichkeit führen konnte – so 1731 am Hof von Arolsen - , beleuchtet die Auseinandersetzung zwischen Scheibe und Birnbaum, Bachs Sprachrohr, im „Critischen Musikus" seit 1737, wobei Scheibe der Produktivität der Musiker das Wort redet, indem er Bach kritisiert, da dieser alle „Manieren" ausschreibe, während Birnbaum genau dies mit dem Argument verteidigt, diese Maßnahme sei ein Schutz für die „Ehre" des Komponisten. Denn sonst könnten schlechte Verzierungen für dessen Fehler gehalten werden.

Der Komponist wird hierdurch zum alleinigen Herrscher über die erklingende Musik, und die Individualisierung der Musik, die Focussierung des Erklingenden von einem sozialen Zusammenspiel auf nur eine einzige Person nimmt ihren Lauf. Die Parallele zum Schicksal sowohl der Produktionseinheit Familie wie auch der ländlichen und handwerklichen Kooperation alten Schlages ist deutlich, nämlich deren Bewegung hin zur Aufteilung der Familie in den geldverdienenden Mann und die Haus und Kinder hütende Frau sowie hin zur Vereinzelung und Proletarisierung im industriellen Bereich unter einem einzigen Fabrikherren.

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5. Rückzug des Komponisten aus der Musikpraxis zugunsten des Dirigenten

Der Komponist zieht sich allmählich aus seiner früher recht häufigen Rolle als Mitspieler heraus und wird zum Magier hinter den Kulissen, ist unüberhörbar nur noch in den Klängen präsent wie der Heilige Geist in allem, was die Welt durchweht. Saß er früher in vielen Fällen am Cembalo und leitete von da aus im Verein mit dem Konzertmeister die Aufführung, so bleibt der Stuhl nun leer und verschwindet bald ganz. Der Untergang des Generalbasses hat selbstverständlich in erster Linie etwas mit dem Wandel der Stil- und Satzart zu tun. Aber er ist auch Ausdruck des Entweichens des Herstellers in die Höhe der Ideen und Gedanken. Berlioz am Cembalo sitzend und seine idée fixe begleitend, ist eine absurde Vorstellung, zeigt jedoch den Epochenübergang eindrucksvoll auf.

Aber der Komponist, der schon den Musikern das Mitproduzieren verboten hatte, kann diese in seiner körperlichen Abwesenheit, vertreten nur durch seine Anwesenheit in Noten und Aufführungsanweisungen, nicht unter sich alleine lassen. Er setzt einen Stellvertreter seines Willens ein, den Dirigenten, der seine Befehle umzusetzen und über deren richtige Ausführung zu walten hat. Der Dirigent ist der verlängerte Arm des Komponisten, sein Stellvertreter auf Erden, so wie der Feldherr für den Hersscher. Der Vergleich mit dem Feldherrn ist zu finden in Gassners Buch „Dirigent und Ripienist" von 1844.

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6. Der Komponist als öffentliche Person

Die Zentrierung des Komponierens und des Komponierten auf den Komponisten findet nicht nur unter praktischen Gesichtspunkten und Veränderungen des Gattungsspektrums statt, sondern auch im Inhaltlichen der Werke, insofern nämlich die Identität einer einzelnen Person das Muster- und Typenhafte der älteren Stücke zugunsten eines individualistischen Sich – Ausdrückens aufsprengt. Beethovens Bemerkung zum Verlust des tempo ordinario besagte dies bereits. Seit dem Sturm und Drang und entsprechenden Bewegungen zur Radikalisierung der Affektsprache innerhalb der Musik gewinnt das Bedürfnis Platz, daß der seit Shaftesbury als „a second maker", also als zweiter Schöpfer bezeichnete Künstler, das neue „Genie", seine – wie man damals sagte – „Ichheit" „ausdrückt", sich selbst und seine Befindlichkeit in den Mittelpunkt und vor das Publikum stellt.

Extrembeispiel ist Berlioz mit der Symphonie fantastique, deren Programm der „Schöpfer" selbst ist, der dies auch allen sicht- und hörbar vor Augen und Ohren stellt und auf diese Weise ebenso öffentlicher Star wird wie die großen Virtuosen des Podiums. Nicht nur ästhetische Fragen werden es also gewesen sein, die die aufkommende Diskrepanz zwischen den Traditionalisten der „absoluten" Musik und den Programm - Musikern begründeten, sondern auch das Verständnis von der Beziehung zwischen Komponist und Publikum, einerseits Rückzug nach dem kompositorischen Akt hinter das fertige Werk im Sinne von Nicolaus Listernius‘ opus perfectum et absolutum, also das traditionelle Zurücktreten hinter die Noten, wie es nach Beethoven auch die Linie Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms und Bruckner vorlebte, andererseits publikumswirksame Herausstellen der eigenen Person als Bühnenerscheinung, leibhaftig oder im Programm, ganz im Sinne des Virtuosen – Stars, wie es dann die Linie nach Berlioz vollführte, teilweise in Personalunion mit dem Virtuosen: Liszt, Wagner oder Mahler.

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7. Selbstdarstellung und Poetisierung

Dies zeigt sich auch in der Erweiterung des öffentlichen Auftrittes durch die Nobilitierung des Komponisten zur Bildungshöhe und offenen Publikumsanrede im geschriebenen Wort, im Aufrücken vom quasi handwerklichen Status des Komponisten zum geistigen und geistvollen Weltmann im veröffentlichten, musikbezogenen Text, nicht nur im Programm der Programm – Musik, sondern auch im Prosatext zu musikästhetischen Fragen wie bei Schumann, Liszt und Wagner oder zu Themen, die in romanhafte Höhen zielen wie bei Weber, oder solchen, die über Politisches handeln wie bei Wagner. Darin holt die Musik etwas nach, was andere Künste schon lange vorher als Möglichkeit mit sich trugen. Die Musik als Massenkunst des Unbewußten gewinnt nun auch den Boden des bewußt vorgetragenen Gedankens hinzu: Der Komponist wird Schriftsteller, auch über den Rahmen jener Disziplinen hinaus, die er vordem schon schriftstellernd beliefert hatte, nämlich Kompositionslehre und Musikästhetik.

Hierzu verhilft auch der Anspruch der deutschen Romantik auf den Abbau der Grenzen zwischen den Künsten, auf das integrierte Kunstwerk im Sinne der „Universalpoesie". Die Poetisierung der musikalischen Produktion, also die inhaltliche Füllung der Kompositionen mit sprachlichen oder sprachadäquaten Inhalten und Bedeutungen ist einer der Auslöser dieses Aufstieges des Komponisten zum gebildeten und seine Bildung auch außerhalb der Noten darstellenden Künstler. Als Musterbeispiel bedenklicher Art, zugleich Musik, aber auch Politisches betreffend, kann Wagners Schrift „Das Judenthum in der Musik" gelten.

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8. Der „Schöpfer" und die Religiosität des Werkes, Individualisierung der Form

Im Zuge der Individualisierung des Musikwerkes und der religiösen Ermattung des Zeitalters, zugleich befördert durch die Sakralisierung vor allem der Instrumentalmusik durch die Romantiker, nimmt die Charakterisierung des Komponisten als „second maker" Züge eines Ersatz – Gottes an, dem zu folgen und dessen Rätsel zu lösen nun eine neuartige Anforderung an das Publikum ergibt zur Anstrengung im Enträtseln der wortlosen Höraufgaben. Ab jetzt gibt die die Formel: „Ich verstehe leider nichts von Musik." Sie setzt voraus, daß nur der Eingeweihte in den Kreis der Anbeter gehört und nur ihm ein Zugang zu den gestellten Rätseln möglich ist. Schuberts Text „Mein Traum" bringt dieses neuartige Verständnis vom anbetenden und durch das Kunstwerk rätselhaft erlösten Hörer ins Wort. Der überirdische und wortlose „Ton" ist es bei Schubert ja, der schließlich die Harmonie wieder herstellt, eben jener „Ton", welcher in dem Eichendorffschen Motto von Schumanns C-Dur – Fantasie durch den „bunten Erdentraum" zieht.

 

War das Verhältnis zwischen Werk und Publikum zuvor vergleichbar mit demjenigen zwischen Objekt und Subjekt, wobei das Werk als Objekt zum Vergnügen und zur Geschmacksbildung benutzt wurde, dabei immer in einer „vernünftigen" Distanz durch das hörende Subjekt, so verkehrt sich allmählich das Verhältnis ins Gegenteil, indem das Kunstwerk zum Subjekt wird, repräsentiert zugleich durch dessen Schöpfer, das Publikum aber zum Objekt, das versucht, sich dem Subjekt zu nähern und es zu verstehen.

Beispielhaft hierfür ist eine Äußerung Johann Friedrich Reichardts über die Musik Carl Philipp Emanuel Bachs von 1774, wonach, um dessen Musik zu begreifen,

„man sich in dieselbe Begeisterung zu versetzen suchen muß, in der der Componist sich bey der Arbeit befand" – eine nicht einzulösende Anforderung - ,

oder eine noch weitergehende von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann über Beethovens Instrumentalmusik, speziell die 5.Sinfonie, in der es immer wieder heißt, daß die Hörenden an der Hand des Komponisten geleitet und geführt werden, ob zur „Ahnung des Unendlichen" oder zur „unendlichen Sehnsucht, welche das Wesen der Romantik ist."

Es gibt nun im Hören keine Möglichkeit mehr zu interessierter Distanziertheit oder zum freundlichen Desinteresse, sondern nur noch die Wahl zwischen Auslieferung oder Abwendung.

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9. Verhältnis zum Publikum, der Komponist als Verkünder

Im Zusammenspiel von Individualisierung und schriftlich-philosophischer Bildungsbekundung erscheint nun der magische „Schöpfer" als Verkünder und als Prophet, der aus erhöhter Position an sein Volk spricht. Die Musik wird zur Volksrede, und durch ihre neuartige Möglichkeit, auch das von den Gegnern so genannte „Außermusikalische" einzubeziehen, kann sie als Ideenkunstwerk erscheinen, ob nun das Publikum – ganz im Sinne E.T.A.Hoffmanns - nur ahnen kann, welche Idee oder Ideenfolge ihm vermittelt wird wie etwa im Falle der 5.Sinfonie oder der 9.Sinfonie, deren Schlußsatz auf die überwundenen oder zu überwindenden Stufen der vorangegangenen Sätze verweist, ohne daß deren Sinn jemals entschlüsselt werden konnte oder wohl auch wird, oder ob dem Publikum wie im Falle der Symphonie fantastique das deutliche und für manche überdeutliche Drama der romantischen, unerfüllten und unerfüllbaren Sehnsucht vorgeführt wird. So schwankt das Publikum zwischen klaren Botschaften, Hinweisen ohne Lösungsmöglichkeit oder erahnten Lösungen. Stets gibt der Komponist einen Fingerzeig auf Höheres als nur die erklingende Musik.

Für diese Ideendramen genügen die alten Maße und Umrisse nicht mehr. Der Komponist benötigt für die Entwicklung seiner Themen, klingenden Dispute und Tragödien mehr Raum als in der herkömmlichen Musik. Im Publikum der Eroica wurde nach der Uraufführung von 1805 geklagt: „Sie dauert eine ganze Stunde!" Andere klingende Ideenkunstwerke gehen noch darüber hinaus, und die Tendenz besteht und wird auch zuweilen ausgeführt, dem Publikum nicht einmal mehr eine Satzpause zu lassen, sondern eine Sinfonie in ihrer anstrengenden Länge ohne Einschnitt und ohne Unterbrechung des „drame instrumental" – wie Berlioz es nannte – fortrasen zu lassen. Die „Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit" (Dahlhaus) nimmt Gestalt an bis hin zu den Tondichtungen von Richard Strauss oder der „Verklärten Nacht" von Schönberg.

Die zentralen Gestalten dieser Ideenkunstwerke in musikalischem Gewande sind Liszt und Wagner, wobei dieser die Entwicklung auf die Spitze treibt. „Der Ring des Nibelungen" ist zweifelsohne neben dem „Faust" das einzige Kunstwerk des 19.Jahrhunderts, welches sich als zusammenfassendes Menschheitsdrama ansprechen läßt, in dem die gesamte Geschichte des Menschengeschlechtes dargestellt und interpretiert wird, um schließlich sogar einen Blick in die Möglichkeiten und Ziele der Zukunft zu zeigen. Dementsprechend ist Wagner hier auch der Extremist der Maße, vor allem wenn man bedenkt, daß die Nornenszene am Beginn der „Götterdämmerung", in welcher die Voraussetzungen für die Katastrophe mitgeteilt werden, im Grunde noch einen fünften Teil hätten abgeben können, der dem ohnehin schon vorgesetzten „Rheingold" hätte vorangehen müssen.

In diesem Zusammenhang und in sammelndem Blick auf alles bisher Gesagte sollte einmal die Frage angeschnitten werden, ob es nicht von Belang ist, daß die Träger der Entwicklung ausschließlich Männer waren. Es geht dabei nicht um das Problem der sogenannten weiblichen Ästhetik, das erst dann relevant werden kann, wenn Frauen die gleichen Ausbildungsmöglichkeiten haben wie Männer, im Falle des Komponierens besonders problembeladen im Unterschied beispielsweise zum Malen und Dichten. Diese Möglichkeiten sind im angesprochenen Zeitrahmen jedoch noch lange nicht erreicht und können selbst bei den Geschwistern Mendelssohn Bartholdy nur als früher Ausnahmefall beobachtet werden.

Vielmehr geht es darum, ob der Durchbruch zum Genie, also zum angesprochenen Syndrom von Konkurrenzwesen, Leistungsorientierung, Fortschrittsglaube, Maßlosigkeit und Kunstpriesterschaft, sich nur deshalb so prägend in die Geschichte des Komponierens eingenistet hat, weil die Hälfte der produktiven Möglichkeiten im bürgerlichen Aufbruch, nämlich die weiblichen, vom kompositorischen Prozess ausgeschlossen waren. Dies bedeutet nicht eine Verteufelung der männlichen Psyche, sondern betrifft die Tatsache, daß jener Richtung, welche die kompositorische Entwicklung einschlug, ein Korrektiv fehlte und sie dadurch eine brisante Einseitigkeit und Geschwindigkeit annahm, die zwar eine Produktions- und Innovationsmenge gewaltigen Ausmaßes hervorbrachte, nicht aber eine auch nur im Ansatz vergleichbare Menge an Selbstreflektion, Körperorientierung oder praktischer Gelassenheit, diese Momente nicht gemeint als Spezifika des Weiblichen, sondern als mögliche Ergebnisse eines Austausches zwischen beiden Geschlechtern. Um die Einseitigkeit im Ergebnis rein männlichen Verhaltens zu akzentuieren, genügt es wohl, auf die Anteile der Geschlechter in der Durchführung und Ausgestaltung der Französischen Revolution hinzuweisen.

Dieser Gedanke ist ebenso einfach wie unbeliebt, dürfte aber, ob positiv oder negativ bewertet, dem Bild vom vorwärtsstürmenden Komponisten eine neue Farbe geben, wenn nicht einen neuen Schattenschlag. Vor allem aber handelt es sich hierbei um einen Aspekt, dessen Betrachtung und Untersuchung unsere Zunft nicht in scheinbarer Großzügigkeit den weiblichen Mitgliedern überlassen darf, sondern die ebensogut Männersache ist. Denn viele von uns Männern sind Spezialisten des angesprochenen Arbeitssyndroms, haben sie doch die Art und Weise, wie sie ihre Forschungsarbeit durchführen, in geringerem oder größerem Maße von den Gegenständen ihrer Forschung entlehnt, den großen Musik - Heroen und den Ergebnissen ihres rastlosen Wirkens.

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10. Änderung des Natur- und Schönheitsbegriffes

Um die große, individuell gegründete Volksrede als Ideenkunstwerk zu vollbringen, ist eine Änderung des Schönheitsbegriffes erforderlich – weg vom Verständnis der aristotelischen Naturnachahmung, also der Auswahl der besten Elemente und Vorbilder der „belle et simple nature" und deren Zusammenfügung zum harmonischen Kunstganzen, wie sie Mattheson so vehement vertrat, und hin zu einem neuen Begriff von Natur und Naturnachahmung, der den menschlichen „Schöpfer" in seiner ungeschminkten und ungestutzten Natur als Gegenstand und Modell wählt und dessen Vertreter um 1850 folgerichtig von ihren Gegnern als „Realisten" abgetan wurden. Dies schließt auch die musikalische Darstellung des Unausgewogenen, des Zerrissenen bis hin zum Häßlichen ein, stets geleitet von dem Anspruch, die menschliche Wahrheit in einer Art zu zeigen, welche die Forderung nach Harmonie abstreift und dadurch eine garantierte Vorerwartung ausschließt, was Gattungformen und Gefühlsfolgen angeht. Die Individualisierung des Kunstwerks führt dazu, daß man sich auf Unerwartetes einrichten muß, auf Überraschungen und auf das Fehlen von Gegengewichten, welche die erstaunlichen Umschwünge austarieren könnten. Pionierwerk dieses Vorganges ist sicherlich wiederum die Eroica: Die Erwartung, nach den drei ersten, schon genügend verzerrten Sätzen dieser „kühnen und wilden Phantasie", wie einer der ersten Hörer schrieb, werde der letzte Satz ein ausgleichendes und harmonisierendes Pendant bilden, erfüllt sich keineswegs, da dieser in seiner Mischung unterschiedlicher Gattungen und mit seinen unvermuteten, unerklärlichen Brüchen die Verwirrung noch steigert und die Hörerschaft zwar aufgewühlt und erschüttert entläßt, jedoch auch ratlos, wenn nicht befremdet. Jedes der großen Ideenkunstwerke beansprucht eine neue, seinem spezifischen Gehalt angemessene Form, abweichend vom tradierten Kanon und Muster.

Der Weg zur Neuen Musik ist eröffnet, damit auch zur Abgrenzung von leicht verständlicher Musik und folglich zur Entwicklung der Populären Musik. Bringen wir dies in Zusammenhang mit den vorangegangenen Punkten, so tritt in fast allen eines zutage: Spaltung, wohin man blickt.

Das muß nicht als bedenkliches Fazit gelten, sondern kann dann zustimmend zur Kenntnis genommen werden, wenn die Zweisträngigkeit des Komponierens von Kunst- und Unterhaltungsmusik als Bereicherung des Musiklebens, sozusagen als Verdoppelung der Produktion verstanden wird. Doch wird man die rasante Entwicklung auf die Atonalität hin nicht nur positiv bewerten wollen wie Adorno, selbstverständlich auch nicht nur negativ wie Schdanow, ebensowenig aber das Emporschnellen von Operette und Schlager als ausgleichendes Element auf den Schild heben wollen. Gibt es in dem, was sich auf stilistischer Ebene abspielt, nur Uneinheitliches und Widersprüchliches, so sind doch auf sozialem Feld eindeutigere Fortschritte zu entdecken, die vielleicht manchem im Vergleich zu den Nöten im Konzipieren von Opern und Sinfoniesätzen oder zu den Kämpfen um die wahre Nachfolge Beethovens wenig bedeutend erscheinen mögen, die aber im Unterschied zu solchen künstlerischen Bewegungen auf hoher Ebene den Vorteil haben, praktisch zu sein und konkret wahrgenommen werden zu können. Die einzige Klammer nämlich, die alles Auseinanderstrebende zusammenhält und einen für alle gemeinsamen Fortschritt erkennen läßt, scheint das Urheberrecht zu sein, wie es durch das 19. Jahrhundert sich immer weiter ausbildet und den Sozialstatus des „freien" Komponisten tatsächlich abzusichern beginnt. Doch selbst hier findet der stilistische Spaltpilz Nahrung, wie er noch heute im System der Bewertungspunkte für ernste und leichte Musik wirkt. Was dagegen als unbefragbarer Positivposten in der Entwicklung des 19. Jahrhunderts herausgestellt werden kann, ist die allmähliche Teilhabe von Frauen am kompositorischen Geschehen. Wer sich je mit den Werken Fanny Hensels beschäftigt hat, etwa mit ihren Liedern oder ihrem Streichquartett, wird ins Grübeln geraten über die Frage, ob ihr Bruder sie bis kurz vor ihrem Ende nur deshalb am Publizieren hinderte, weil er sie auf ihre Geschlechterrolle beschränkt wissen wollte. In dieser Hinsicht kann Mozart nicht hoch genug eingeschätzt werden, gab er doch zahlreichen Frauen nicht nur Klavier- , sondern auch Kompositionsunterricht und hat sich damit an der Ausbildung der großen Wiener Pianistinnen – Schule beteiligt, von deren Können auch die Aufführung von Beethovens Klavierwerken profitierte.

Einen der größten Verluste der Musikgeschichte bedeutet es, daß Mozart seinen Plan, eine Kompositionslehre zu schreiben, nicht verwirklicht hat. Dies hätte innerhalb der Geschichte des Komponierens und der Komponisten einen ungeheuren Sprung bedeutet. Da dies Referat dem Anstoß zu Diskussionen dienen soll, stelle ich an sein Ende eine Frage, zu deren Beantwortung - meiner Vermutung nach - viele der angesprochenen Punkte beitragen können: Warum hat keiner der großen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts eine Kompositionslehre verfaßt?

Warum heißt die Reihe der Autoren Koch, Momigny, Reicha, Weber, Logier, Marx, Lobe, Sechter und Jadassohn und nicht

Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Mozart, Haydn, Berlioz, Mendelssohn, Gounod, Brahms und Bruckner?

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